Jorge María Londoño hat gewelltes Haar, das fast bis zur Schulter reicht, und trägt ein lockeres schwarzes T-Shirt. Seit 2018 hat Londoño den Vorsitz bei „Jugend gegen Rassismus“ (Ungdom mot rasism – UMR), einer der prominentesten antirassistischen Organisationen in Schweden. Wir treffen uns virtuell, um über das koloniale Erbe des Landes und das Leben „nach George Floyd“ zu sprechen.
Dass Rassismus in Schweden existiert, wurde einigen erst nach dem Tod des Afroamerikaners in Minneapolis klar. Anfang Juni versammelten sich Tausende unter dem Motto „Black lives matter“ (BLM) im Zentrum Stockholms. Auch in Göteborg und Malmö gingen die Menschen auf die Straße. „Zum ersten Mal in unserer Geschichte sind wir an einem Punkt angelangt, an dem wir einen tatsächlichen Rassismuskonflikt haben“, sagt Jorge María Londoño.
Schweden war schon immer eine Nation, in der über Rassismus nicht diskutiert wurde. Selbst das Wort „weiß“ wurde dort erst vor etwa zehn Jahren zum ersten Mal in einem rassismusbezogenen Kontext verwendet. In dem Land herrscht eher die Erzählung vor, dass alle, die im Wohlfahrtsstaat leben, es schaffen können. Diskriminierung aufgrund von Hautton oder der Herkunft der Eltern habe einfach nicht in die Denkweise der Menschen gepasst, die „in einer so beispielhaften modernen Demokratie“ leben, sagt Londoño.
Transitzentrum statt Sommerurlaub
Der*die Aktivist*in ist selbst als Kind aus Cali in Kolumbien nach Schweden gekommen. In dem südamerikanischen Land kämpfte Londoños Großmutter gegen kriminelle Drogenkartelle. Wegen der politischen Situation und der Gewalt musste sie Ende der achtziger Jahre nach Schweden fliehen. Im Jahr 2000 kamen ihre Tochter und Enkelkinder hinzu. „Drei Jahre später, als ich neun Jahre alt war, wurde ich abgeschoben, weil mein Asylantrag abgelehnt worden war“, erzählt der*die heute 26-jährige Londoño.
Einige Monate nach der Abschiebung durfte sie*er schließlich doch nach Schweden zurückkehren. Die Behörden änderten ihre Entscheidung. »Ich erinnere mich, dass ich wieder in die Schule kam und Angst hatte, darüber zu sprechen, was mir in den Sommerferien passiert ist.« Alle Freunde plauderten fröhlich über ihren Urlaub auf Mallorca oder in Florida. „Ich war auch in Florida, aber in einem Transitzentrum für Asylsuchende, auf dem Weg zurück nach Schweden.“
Koloniales Steuerparadies
Bei „Jugend gegen Rassismus“ ist Londoño seit 2014 dabei. 2018 machte die Organisation einen Neustart. »Queerer, feministischer« sollte sie werden. Auch Londoño setzt sich aktiv für LGBTIQ-Rechte ein, beschreibt sich selbst als nicht-binär/trans und zieht es vor, als „sie“ (wie im Englischen „they/them“) angesprochen zu werden.
Die UMR betreibt mittlerweile eine »Aktivisten-Hochschule«. Dort werden Führungskräftetrainings und Mentoring für junge Menschen angeboten. Inzwischen hat die Organisation Gruppen in unter anderem in Stockholm, Göteborg und Växsjö in Südschweden. Wie sollte antirassistische Politik aussehen, wenn es nach der UMR ginge? Ganz klar: Dekolonial, feministisch und mutig.
Schwedens koloniale Vergangenheit sei nie vollständig anerkannt worden, sagt Londoño. Die schwedische Kolonie Saint-Barthélemy war Ende des achtzehnten Jahrhunderts ein wichtiger Ort für den Sklavenhandel in der Karibik. Im Gegensatz zu vielen anderen Inseln gab es dort nie Zuckerrohrplantagen oder Tabak, der exportiert werden konnte. „Es war kein sehr profitables Stück Land“, erklärt Londoño. Also schufen die Behörden ein Steuerparadies, damit andere Nationen dort problemlos Sklavenhandel betreiben konnten.
Schweden war eines der letzten Länder Europas, das am 9. Oktober 1847, etwa vierzehn Jahre nach Großbritannien, die Sklaverei abschaffte. Dieses Datum wurde am 9. Oktober mit einer groß aufgezogenen Online-Show »Black by public demand« (»Schwarz mit öffentlicher Nachfrage«) gewürdigt. Etwa 20 Künstler*innen aus der schwedischen schwarzen Kunstszene wollen zeigen, welche Vielfalt es im Land gibt.
Fallen auch in Schweden Statuen?
Die BLM-Proteste haben auch der Debatte über historische Figuren eine neue Dynamik verliehen. Als eine der ersten landete im Juni die Statue des britischen Sklavenhändlers Edward Colston in Bristol im Wasser. Kurz darauf forderte die preisgekrönte schwedisch-gambische Aktivistin Lovette Jallow die Entfernung der Denkmäler des berühmten schwedischen Wissenschaftlers für Carl von Linné. Schließlich war er derjenige, der die Menschen in Rassenkategorien einteilte, Schädel vermaß und Hautfarben beschrieb. Gefeiert wird er heute unter anderem, weil er Blumen klassifizierte.
Mehr als ein Viertel aller schwedischen Bürger*innen haben heute Migrationsgeschichte – darunter etwa 350.000 Afro-Schweden. Im Jahr 2018 identifizierte der Schwedische Rat für Verbrechensverhütung 7.090 Polizeiberichte, in denen Hass als Motiv angeführt wurde. Das ist ein Anstieg von 29 Prozent im Vergleich zu 2013. Bei 13 Prozent aller rassistischen Straftaten ließen sich die Täter von afrofeindlichen Beweggründen leiten.
Und laut Raschid Musa, einem Aktivisten in Stockholm, stammten zu Beginn der Coronavirus-Pandemie neun der fünfzehn gemeldeten COVID-19-Todesfälle in Schweden aus der somalischen Gemeinschaft. Das habe sofort Schuldzuweisungen ausgelöst: Die Somalier*innen seien nicht integriert, folgten weder den Nachrichten noch den Anweisungen der Behörden.
»Das ist ein typischer Fall von Opferbeschuldigung«, meint Londoño. In Wirklichkeit leben viele von ihnen in kleineren Wohnungen. Sie haben Arbeiterklasse-Jobs und können es sich nicht leisten, von zu Hause aus zu arbeiten. Hinzu kommt, dass oft mehrere Generationen an einem Ort zusammengedrängt sind, was ebenfalls zu höheren Infektionsraten führt.
Die aktuellen Parlamentsdebatten tragen nicht wirklich zur Lösung der Probleme bei. Sie konzentrieren sich vor allem darauf, ob die Migrationspolitik, die das Land seit 2015 verfolgt, beibehalten werden soll.
„Die konservativen Parteien wollen, dass der restriktive Kurs fortgesetzt wird“, sagt Londoño. Die Sozialdemokraten bestehen darauf, dass schwedische Arbeitnehmer*innen vor Dumping geschützt werden müssen. Und die Schwedendemokraten – eine Partei, die aus einer nationalistischen Bewegung namens Bevara Sverige Svenskt („Schweden soll schwedisch bleiben“) hervorgegangen ist – haben eine starke Rhetorik gegen die Black lives Matter-Bewegung entwickelt. Im Grunde erinnert sie an die der Anhänger*innen Donald Trumps in den USA.
Gibt es überhaupt gute Aussichten? Es folgt eine kurze Stille. Dann beugt sich Londoño entschlossen vor und sagt: „Wir müssen eine neue Bewegung für soziale Gerechtigkeit des 21. Jahrhunderts ins Leben rufen“. Eine Bewegung, die von der Generation angetrieben wird, die des Status quo überdrüssig ist. Er denke an „den Arabischen Frühling, an Me too, an die sozialistischen Revolutionen in Südamerika, an die Proteste in Hongkong und die Bewegung für Klimagerechtigkeit“.
Zusammen mit einigen Freunden habe Jorge María Londoño bereits eine soziale Plattform für Queers geschaffen, die Islamophobie ablehnen. Sie will es queeren Muslim*innen ermöglichen, leichter an Pride-Paraden teilzunehmen.
„Wenn Menschen sich in Koalitionen organisieren, die es vorher noch nie gegeben hat, stellen wir diesen Glauben in Frage, dass Unterschiede Probleme schaffen“, sagt Londoño überzeugt.