Veränderungen haben mir schon immer Angst gemacht. Als meine Schwester und ich mit 16 an eine weiterführende Schule wechselten und in unsere erste eigene Wohnung nach Plauen zogen, wurde die Veränderung immer realer. Die Wohnung schien, genau wie der bevorstehende Lebensabschnitt, zu groß für mich. Kein vertrautes Murmeln des Fernsehers. Kein Geruch, der mich ankommen lässt. Kein Zimmer, das mir Ruhe gibt. Es fiel mir schwer, an ein Zuhause zu denken, in dem niemand auf mich wartet und mir zeigt, was zu tun ist. In der noch kahlen Wohnung, lag ich oft wach und scheiterte daran, mir ein Bild von den bevorstehenden zwei Jahren zu machen.
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Meine Vorstellungen, was mich erwarten könnte, bauten auf meiner Erfahrung auf. Dieser Erfahrung nach waren Schulen ein Ort des Anpassens – zu oft hatte ich versucht, ein Individuum zu sein und zu oft wurde mir gezeigt, dass es als Mitmacher, als Angepasster einfacher ist. Neben täglichen Provokationen war es irgendwann zu viel, mich auch noch auf den Lehrplan zu konzentrieren, also hab ich aufgegeben. Die Dreadlocks mussten ab und schlagartig wurde es leichter, miteinander klarzukommen. Dass hinter den verletzenden Kommentaren ein menschenverachtendes Gedankengut steckt, das schon tiefe Wurzeln in der sächsischen Bevölkerung geschlagen hat, war mir aber noch nicht bewusst.
Etwas versteckt und trotzdem versuchend, jemand zu sein, wollte ich die nächsten zwei Jahre bis zur Fachhochschulreife einfach nur zufrieden überstehen. Aber ich bin eine sehr menschennahe Person und fing an, in den Mitschülern Freunde zu finden: Freunde, die es auch dann waren, wenn ich ganz ich selber war. Nachdem es für mich immer sehr bedrückend war, meine sonst laute Person über die Jahre stumm zu schalten, wollte ich mich nie wieder verstecken.
In Plauen hörte das Versteck-Spiel auf
Plauen wurde für mich die Stadt, in der das Versteck-Spiel aufhörte. Ich wollte kein Teil einer Gesellschaft sein, die auf Oberflächlichkeit aufbaut und mit Intoleranz und Gleichschaltung reagiert, sobald ein Mensch nicht in das Gesamtbild passt. Diese Gesellschaft machte mich wütend und ich empfand den Drang, sie zu bekämpfen.
In verschiedenen Ecken Plauens begegnete ich Leuten, die mir Gesellschaftsideen zeigten, die ich vorher nicht kannte. Im Alltag erschienen mir gewohnte Normalitäten auf einmal fragwürdig und meine Umgebung, gerade in Plauen, ließ mich zunehmend zweifeln. Abwertende Blicke, bedeutungslose Beschimpfungen, die Gründe meiner damaligen Selbstzweifel kehrten wieder – aber diesmal lösten sie nur Wut aus.
Einen Weg zwischen Weg-Schauen und totaler Verzweiflung zu finden wurde immer schwerer, je öfter ich über alles nachdachte und so stieß ich oft an meine Grenzen. Die Überwindung wurde besonders dann groß, wenn ich mit Menschen stritt, die mir sehr nahe stehen. Immer wieder zweifelte ich daran, ob es richtig war, ständig zu widersprechen. Dann wurde mein Neffe geboren und ich weiß noch, dass nichts vorher so ermutigend war, wie sein kleines Gesicht. Er sollte sich nie verstecken müssen, keine Gesellschaft sollte ihm sagen, wie er zu sein hat, er sollte immer die gleichen Chancen haben, sich frei zu entfalten. Bis unsere Kinder in einer besseren Zukunft leben, sollte für mich der Kampf nicht aufhören.
Ich musste etwas tun, statt mich nur aufzuregen
Mir war klar, dass es Zeit ist, auch etwas zu tun, anstatt sich immer nur aufzuregen. Mir fehlte aber meistens die Erfahrung oder eher die Überwindung, um eigenständig etwas zu realisieren, wenn die Zeit es neben der Schule überhaupt erlaubt hat. Über einen Freund erfuhr ich das erste Mal von #wannwennnichtjetzt und ich erhoffte mir, damit über ein Projekt Erfahrungen zu sammeln und Menschen kennenzulernen, um nachhaltig eine Möglichkeit zu schaffen, meine Standpunkte zu teilen und diskriminierenden Gesellschaftssystemen etwas entgegenzuhalten. Über offene Treffen innerhalb unserer lokalen Organisations-Gruppe aber auch überregional traf ich immer wieder Menschen, die meine Ansichten teilten und deren Geschichten mich stark bewegten.
So unterschiedlich die Mitglieder unserer Gruppe auch sind, versuchen wir, durch eine große Vielfalt an Themen so viele Plauener wie möglich auf die Straße zu holen und trotzdem die Gemeinsamkeiten zu betonen. Viele Stimmen bewegen schließlich mehr. Über Sachsen wird zurecht viel gesprochen. Aber wann werden die gehört, die entgegen dem verbreiteten Image für ein weltoffenes, solidarisches und gerechtes System laut werden? Ich habe am eigenen Leib erfahren, dass es Mut braucht, um sich selbst zu reflektieren und die Sicht auf das Umfeld zu wechseln. Noch immer fällt es mir schwer, etwas Neues zu wagen, einen Schritt zu machen, aber ich habe es satt, weiter zuzuschauen, wie der Mensch die Menschlichkeit verliert.
#wannwennnichtjetzt hat das Ziel, in jeder Stadt, in der die Tour Halt macht, ein Umdenken zu erzeugen und einen Platz des Austauschs zu bieten. Überall gibt es Aktivist*nnen, die Unterstützung brauchen und für die es sich lohnt, an Veränderung zu glauben.
Nächster Tourstopp: Grimma, am 31.08 (alle Infos hier)
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Dieser Artikel ist Teil unserer Serie „Linker Osten“. In den kommenden Wochen werden wir bei Supernova über Menschen berichten, die sich in Sachsen und Brandenburg rechten Strukturen entgegenstellen.