Sehr geehrter Herr Seeliger, jüngst wurde ihr Buch „Soziologie des Gangstarap – Popkultur als Ausdruck sozialer Konflikte“ veröffentlicht. Darin beschreiben Sie, wie verschiedene Erfahrungen in dem Genre verarbeitet werden, eine besondere Rolle spielt dabei auch immer wieder das Thema Migration. Welche Bedeutung hat diese im Gangstarap?
Die Thematisierung von Migration ist beim deutschen Gangstarap das charakteristischste Merkmal. In dem Genre wird dabei vor allem migrantische Männlichkeit verhandelt. Die benutzten Bilder und Geschichten sind jedoch nichts, was die Rapper sich ausgedacht haben.
Woher stammen sie?
Dass Journalisten und Politiker über migrantische Jugendliche als „Problemgruppe“ sprechen und ihnen Frauenfeindlichkeit, eine Tendenz zur Gewalt oder übersteigerten Materialismus zuschreiben, ist älter als Gangstarap – das haben die Rapper nicht erfunden. Diese satteln lediglich auf einen Krisendiskurs auf, der vor allem seit den Anschlägen auf das World Trade Center im Jahr 2001 von antimuslimischem Rassismus genährt wurde. Bushido kann die Rolle des „gefährlichen Arabers“ nur deswegen geben, weil es zuvor die entsprechenden Debatten über die Neuköllner Rütlischule, soziale Brennpunkte, eine vermeintliche Islamisierung Deutschland und die rassistischen Behauptungen des SPD-Politikers und ehemaligen Berliner Finanzsenators Thilo Sarrazin gab.
Entbindet diese Sichtweise nicht die Rapper von der eigenen Verantwortung? Warum stellen sie der reaktionären Debatte keine progressiv-widerständigen Bilder entgegen?
Warum machen die Arbeiter keine Revolution? Um es mit dem Soziologen Pierre Bourdieu zu versuchen: Die Überforderung im Alltag ermöglicht es der unteren Klasse nicht unbedingt, langfristig zu planen. Im Milieu lebt man im Moment. Du machst dreckiges Geld unter Schwarzmarktbedingungen in einem prekären Job und kannst dafür jederzeit vom Staat belangt werden. Das dreckige Geld muss also schnell wieder weg und beispielsweise in Konsumgüter investiert werden.
Ist das nicht ein zynischer Blick?
Man darf nicht vergessen: Nur weil die unterdrückte Klasse unterdrückt ist, besteht sie deswegen nicht aus guten Menschen mit progressiven Haltungen. Gangstarap ist da auch zumindest ein Stück weit musikalischer Spiegel – oder besser Zerrspiegel – der Gesellschaft. Die ganzen destruktiven Einflüsse, die funktionierende Klassenpolitik generell in der Gesellschaft verhindern, kann auch er nicht einfach ablegen.
Welche destruktiven Einflüssen meinen Sie?
Es gibt keine politische Perspektive, in der für Gangsta-Rapper ein kollektives, emanzipatorisches Handeln plausibel wäre. Eine Partei als „Schwert“ und eine Gewerkschaft als „Schild“ zu unterstützen – das macht aus Sicht des Gangsta-Raps einfach keinen Sinn. Diese Betrachtung ist auch nicht völlig unbegründet vor dem Hintergrund der migantischen Erfahrungen in der Bundesrepublik.
Inwiefern?
Speziell die Gewerkschaften haben bei der Organisierung der Arbeitsmigranten in der Bundesrepublik seit den 1970er Jahren keine Erfolgsgeschichte vorzuweisen. Sicher, es gab immer wieder auch kämpferische Ereignisse, aber die Erkenntnis, dass man in linke Parteien oder Gewerkschaften eintreten muss, um seine Interessen durchzusetzen, ist bis heute nicht verbreitet. Eine Ausnahme stellt hier vielleicht noch die kurdische Gemeinde dar. Aber die Bündelung der eigenen Interessen in einer kollektiven Organisation ist in der Szene keine Selbstverständlichkeit.
Wie würde das Eintreten für solche Positionen in der Gangsta-Rap-Gemeinde ankommen?
Vermutlich würde man so etwas als Zeichen von Schwäche werten, als „waschlappenhaftes Lamentieren“. So wollen die Rapper nicht wahrgenommen werden. Eine Kompensationsform der eigenen Erfahrung von gesellschaftlicher Randständigkeit ist das Verleugnen eigener Schwäche und Bedürfnisse. Der Rapper Massiv könnte in seiner Rolle nicht einfach sagen „Meine Dienstleistungsjobber, tretet bei Verdi ein!“ Wenn ich mich entscheiden müsste zwischen individueller Karriere oder meine Klasse organisieren – unter dem Aspekt, was ist wahrscheinlicher für das eigene Vorankommen – ich würde das Erstere nehmen.
Dennoch: Schimmert nicht gelegentlich auch im Gangstarap die Thematisierung von Ungleichheit und Ungerechtigkeit durch?
Bei einigen Gangsta-Rappern wie Nate57 oder Hanybal sind Elemente von Ungleichheitskritik stärker ausgeprägt, bei anderen wie Bushido die Erzählung vom eigenen Aufstieg. Generell bewegt sich jedoch das Muster des Genre zwischen Affirmation, also der Bejahung der gesellschaftlichen Zustände, und Empowerment, also Selbstbestimmung und Selbstermächtigung. Da sind bestimmte Elemente zugleich fortschrittlich und rückschrittlich.
Was ist beispielsweise fortschrittlich?
Die migrantische Identitätsbehauptung: Wir sind jetzt hier und wir wollen unsere Öffentlichkeit. Diesen Aspekt darf man nicht unterschätzen. Wenn ein Rapper wie Bushido mit der Abou-Chaker-Familie abhängt, muss man sich wohl nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, um ein dahinterliegendes Anerkennungsdefizit zu erkennen. Es ist jedoch ein linker Zweckoptimismus, wenn man glaubt, dass nur, weil sich jemand von etwas emanzipiert, er deswegen auch progressive Einstellungen verfolgt. Gangsta-Rapper treten nach oben und unten zugleich.
Beschrieben Sie bitte diese Ambivalenz.
Man kann sich von einer Sache emanzipieren, aber in einer anderen Sache rückschrittlich sein. Nehmen wir die ambivalente Rapperin Schwesta Ewa. Sie zeigt, dass auch als Frau Gangsta-Rap möglich ist und behauptet sich in einem männerdominierten Feld. Zugleich organisierte sie auch Sexarbeit, es gab Ermittlungen gegen sie. Nur weil sie sich als Frau emanzipiert, ist sie nicht unbedingt fortschrittlich. Dazu kommt die Frage: Was ist überhaupt progressiv? Ist der Drogen-Schwarzmarkt gut oder schlecht aus Sicht von Menschen, denen klassische Bildungswege oder reguläre Jobverhältnisse verwehrt bleiben?
Gibt es linken Gangstarap? Was ist beispielsweise mit dem Hamburger Rapper Disarstar?
Disastars Musik ist künstlerisch sehr interessant. Er sucht nach Anknüpfungs- und Schnittpunkten, um linke Gesinnung mit Straßenästhetik zu verbinden. Dabei versucht er auch die im Gangsterrap enthaltene, aber eben nicht so explizite Ungleichheitskritik zu politisieren. Er beschreibt, wie wir systematisch unterdrückt werden und eben deshalb versuchen müssen, uns kollektiv zu befreien. Dieses Vorhaben ist musikalisch jedoch kein leichtes Unterfangen. Agitation lässt sich nur schwer in Popästhetik ausdrücken, die nun mal sehr nützlich für Aufmerksamkeit ist. Abgesehen von Disarstar gibt es jedoch kaum relevante Versuche von linkem Straßen- oder Gangstarap.
Homophobie, Antisemitismus und Frauenfeindlichkeit scheinen wiederum sowohl bei vielen Texten als auch bei den Gangsta-Rappern als reale Personen ein ernsthaftes Problem darzustellen. Momentan mehren sich Vorwürfe von sexuellen Übergriffen, ein DeutschrapMeToo verbreitet sich in sozialen Netzwerken. Betrachten wir beispielsweise mal Kollegah, dessen Buch „Das ist Alpha!: Die 10 Boss-Gebote“ auch von Ihnen ausführlich untersucht wurde…
In dem Buch beschreibt Kollegah, wie man vom „Lauch“ zum „Alpha“ wird, eine Art neoliberale Aufstiegsgeschichte, fast schon wie in einem Schulbuch. Er konzentriert sich dabei auf eine frauenfeindliche und neoliberale Erzählung der Welt, den Antisemitismus hebt er sich zumindest hier meines Erachtens auf. Die Szenen haben es trotzdem in sich.
Was halten Sie von dem Buch?
Auf der einen Seite finde ich es erschreckend und gefährlich, was er da aufschreibt. Dann lache ich wieder aus der Distanz über die teilweise absurden Sachen, der Sänger Markus Wiebusch sprach diesbezüglich mal von einem Humor, der den Wahnsinn kompensiert. Gleichzeitig muss ich aber auch anerkennen, dass ich mich in bestimmten Aspekten wiedererkenne.
In welchen?
Auch ich bin ehrgeizig und wettbewerbsorientiert und habe mitunter wie die meisten Menschen Gewaltfantasien. Unter Berücksichtigung unserer gesellschaftlichen Zustände ist es nicht völlig abwegig, was Kollegah erzählt.
Sie sprechen vom Leben im Ellbogen-Kapitalismus?
Weiße Managertypen sind das gegenwärtige gesellschaftliche Ideal von Männlichkeit. Die Kernelemente dieses Typus sind Durchsetzungsfähigkeit und Leistungsfähigkeit – neoliberale Primärtugenden. Wenn nun ein aus guten Verhältnissen kommender Josef Ackermann es nach dem BWL-Studium nach ganz Oben geschafft hat, ist das respektabel. Wenn aber ein Rapper sich gegen massive Widerstände von unten nach oben kämpft und den selben Reichtum erreicht, ist das noch beeindruckender. Plus: Der Rapper kann zusätzlich noch Josef Ackermann verprügeln, er ist also noch leistungsfähiger nach den Regeln des Systems. Aber das ist natürlich alles Ideologie. Wir sind letztlich eine Gewinnergesellschaft. Man muss nur Erfolg haben, wie man diesen erreicht, ist egal. Um Leistung geht es ja nicht wirklich, die meisten Reichen in Deutschland haben ihren Reichtum geerbt.
Ist die Klassenlage im Gangstarap in der Realität tatsächlich immer so leicht zu bestimmen? Manche Rapper kommen aus eher bürgerlichen Verhältnissen, viele Konsumenten stammen wiederum eher aus der weißen Mittelschicht. Dazu scheint mittlerweile die Musikindustrie große Teile der produzierten Werke samt der dazugehörigen Skandale zu orchestrieren.
Ich denke auch, dass vieles im Genre inszeniert ist. Gleichzeitig sind die Geschichte, die erzählt werden, auch nicht aus der Luft gegriffen. Wer sich auf jeden Fall bedanken kann, ist die deutsche Automobilindustrie. Zahlreiche Menschen wurden in den vergangenen Jahren von Musikvideos sozialisiert, die im Prinzip Werbung für das Premiumsegment der deutschen Automobilindustrie sind.
Sollte Musik einen pädagogischen Auftrag verfolgen?
Nein. Aber ich verstehe auch nicht, wenn Rapper krasse Sachen sagen und dann jegliche Verantwortung von sich weisen. Das ist genauso Quatsch. Wenn Menschen auf der Bühne stehen, haben sie einen Einfluss und dazu müssen sie stehen.