Seit ich wegen Corona wieder mit dem Daddeln angefangen habe, denke ich über etwas nach, über das ich mir bereits in meiner Jugend den Kopf zerbrochen habe. Damals war mir aufgefallen, mit welcher Häufigkeit männliche Videospieler weibliche Charaktere spielen. Jetzt, da ich mich in die Online-Schießereien von Fortnite begeben habe, läuft mir das Phänomen wieder über den Weg – respektive vor die Knarre: All die Jungs und Männer, sonst so stolz auf ihre Geschlechtszugehörigkeit, spielen in Videospielen lieber weibliche Chars. Warum ist das so? Hat es etwas damit zu tun, dass sie sich die Flintenfrauen beim Spielen so gerne ansehen? Oder spricht da womöglich ein verzwickteres Gefühl aus den unbewussten Tiefen unseres Geschlechterverhältnisses: Neid?
In meiner Jugend habe ich zusammen mit meinen Brüdern und meinen Cousins das 1998 erschienene „Ultima Online“ im Internet gespielt. In unserer Variante ging es jedoch weniger um das ständige Töten von Monstern und um das Aufsteigen von Levels in der mittelalterlich anmutenden Fantasywelt. Wir hatten uns für von Spielern liebevoll selbstgebastelte Alternativwelten des Spiels entschieden. So entstand eine viel tiefer gehende Spielerfahrung – und eine wesentlich engere Identifikation mit den Spielcharakteren, die mich teilweise über viele Jahre begleiteten. ___STEADY_PAYWALL___
Eines Tages postete mein – wie ich – pubertierender Cousin in einem der zum Spiel zugehörigen Online-Foren die Selbstbeobachtung, dass er immerzu nur weibliche Charaktere spielte. Zwar habe ihn das verunsichert, aber er habe auch nicht damit aufhören können. Nun wollte er mit anderen der zumeist männlichen Spieler klären, wie die das erleben und wie das zusammenpasst: ein „stolzer“ Junge zu sein, aber im Videospiel gar keine Lust darauf zu haben. Ich weiß noch, dass ich versuchte, ihn zu beruhigen: „Du stehst eben auf Frauen, daran liegt’s“.
Mein Gedanke war, dass es ins heterosexuell-männliche Begehrensmuster passt, während des Spiels auf einen weiblichen Charakter zu blicken. Zu meinem eigenen Spielerleben passte das übrigens überhaupt nicht: Ich spielte weibliche und männliche Charaktere, die sich oft geschlechtsuntypisch verhielten, sich am laufenden Band in andere verliebten und sich bei den romantischen und sexuellen Begegnungen charakterlich offenbarten. Wenn ich mich für mein guilty pleasure mal wieder allzu schlecht fühlte, erstellte ich einen neuen Charakter, der möglichst geschlechtskonform unterwegs war, um alsbald meine Lust an ihm wieder zu verlieren. Heute bin ich übrigens nichtbinär und queer. Surprise!
Bevor die 100 Mitspieler*innen in Fortnite, das sich im Übrigen vor allem unter männlichen Kindern und Jugendlichen großer Beliebtheit erfreut, aus einem Flugzeug über dem Schlachtfeld abgeworfen werden, gibt es eine Art Wartelobby. Alle Spieler*innen warten an einem Ort auf der Karte zusammen darauf, dass die 100 Spielslots voll sind. Das führt dann jedes mal dazu, dass einige dutzend mit Spitzhacke bewaffnete Frauen auf einem Haufen stehen und Tänzchen voreinander aufführen. Die männlichen Ingame-Charaktere lassen die Spieler meist links liegen.
Angst vor der weiblichen Seite in einem
Wie kann das sein? Jungs und Männer, das zeigt die Männlichkeitsforschung, erleben sich in ihrer Geschlechtsidentität als das überlegene Geschlecht. Sich „wie ein Mädchen zu verhalten“ gilt als eine harte Abwertung unter Jugendlichen. Dass Jungs einander ständig darin belauern, dass die anderen sich zu „schwul“ verhalten könnten, hat wohl mehr mit der eigenen, tiefsitzenden Angst zu tun, andere könnten die eigenen, weiblichen Seiten entdecken.
Männlichkeit konstituiert sich in unseren patriarchalen Gesellschaften als doppelte Hierarchie: als Konkurrenzkampf innerhalb der Klasse aller Jungs und Männer um Dominanz sowie als geteilte Überlegenheit aller Männer über alle Frauen. Kinder lernen schnell, sich in dieser doppelt hierarchischen Geschlechterwelt zu verorten, sich über- oder unterzuordnen, um den an sie gerichteten Erwartungen gerecht zu werden. Jungs haben es dabei noch schwerer, aus ihrer Zurichtung auszubrechen: wagen sie es, sich „unmännlich“ zu verhalten, bedeutet das, sich in der Geschlechterhierarchie „nach unten“ zu bewegen und sich zum Opfer zu qualifizieren.
Der männliche Überlegenheitsdünkel gerät jedoch mit der Pubertät in eine tiefgreifende Krise. Erwacht das heterosexuelle männliche Begehren, werden aus schwachen, abhängigen, unsicheren Mädchen, die in der Welt der männlichen Konkurrenzkämpfe keine Rolle gespielt hatten, plötzlich junge Frauen, die über ihre Körper sexuelle Leidenschaft auslösen können. Jungs sollten sich als autonom, weltgewandt und unabhängig erweisen und dadurch von Mädchen abgrenzen. Jetzt erleben sie sich aber als zutiefst abhängig. Die schönen Gefühle, die mit sexueller Erregung und Befriedigung verbunden sind, sind auf Frauen angewiesen. Wer ein richtiger Mann sein will, muss sich jetzt die Ressource Frauenkörper sichern – dumm nur, dass Mädchen autonome Subjekte sind, die über sich bestimmen und selbst entscheiden, mit wem sie sich abgeben (meist sind das auch noch ältere Jungs). Dieses als Männlichkeitsdilemma bekannte Phänomen bestimmt bis heute tiefgreifend das Zusammenleben der Geschlechter in unserer Gesellschaft.
Eine typische Reaktion auf dieses Dilemma ist der Neid: männliche Körper können es zwar muskelgestählt mit dem Märchendrachen aufnehmen, aber am Ende geht es doch um die schöne Prinzessin, die es zu heiraten gilt. Die Abhängigkeiten kehren sich also um: ein männlicher Körper ist kein Mittel mehr, unabhängig und ganz anders als Mädchen zu sein, sondern dazu da, Zugang zum weiblichen Körper zu erhalten. Wer sich als Junge ergo nicht mehr allen Mädchen demonstrativ überlegen zeigt, büßt auch in der männlichen Binnenhierarchie an Ansehen ein.
Games bieten die Möglichkeit, sich auszuleben
Also verschiebt sich das Unterlegenheitsgefühl gegenüber Frauen ins Unbewusste. Dort ist es aber weiterhin wirksam, wirkt in verschiedenen Formen von Frauenverachtung, aber eben auch als Identifikation und als Neid. Wie wäre es wohl, mal einen Tag eine Frau zu sein? Was würde ich mit meinem Körper alles anfangen?
Videospiele bieten die Möglichkeit, diese Phantasie auszuleben. Online kann man sich sogar vor Mitspielern als Frau präsentieren und als solche interagieren. Doch dadurch, dass die Empfindungen rund um Frauenkörper verdrängt, unbewusst gemacht werden, kann auch eine Gefahr entstehen. Wird Neid nicht verstanden, wandelt er sich in Aggression und Hass. Das, was in einem unangenehme Gefühle auslöst, wird dann bekämpft. Das Drama rund um die Körper von Männern und Frauen spielt jedenfalls eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der vielen Gewalt, die Frauen durch Männer zugefügt wird. Die Zuneigung, die Männer für Frauen empfinden, ist stets durchmischt mit unbewusstem Frauenhass.
Ein Mittel, diesen Hass ein Stück weit zu entkräften, wäre es jedenfalls, sich seinen Neid auf Frauen und ihre Körper einzugestehen. Man kann dann nicht nur Spaß daran haben, im Spiel in andere Rollen zu schlüpfen, sondern sich vielleicht auch im Real Life mal trauen, die eigene, weibliche Seite zu zeigen.