In Indien vergeht derzeit kaum ein Tag, an dem nicht protestiert wird. Seit Bekanntgabe des „Citizenship Amendment Act“ (CAA) genannten Migrationsgesetzes am 12. Dezember 2019 gehen mehr und mehr Menschen auf die Straße. Begonnen hatte alles im nordöstlichen Assam, dann regte sich auch an den Unis Widerstand. Nach gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Studierenden der muslimischen Universitäten Jamia Millia Islamia (JMI) und Aligarh University (AMU) mit der Polizei, fanden an über 20 Hochschulen im Land Demonstrationen statt. Mittlerweile haben sich Menschen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen angeschlossen. Sie versammeln sich vor der bekannten Jama Moschee in Delhi, in Mumbais Slum Dharavi , an den Universitäten und auf öffentlichen Plätzen.
Das Migrationsgesetz würde es verfolgten religiösen Minderheiten aus Pakistan, Bangladesch und Afghanistan, die seit 2014 in Indien leben, erleichtern, die indische Staatsbürgerschaft zu bekommen. Ausgeschlossen von der Regelung sind jedoch Muslim*innen. Und das ist der Haken: Denn damit widerspricht die Gesetzesänderung der indischen Verfassung, in der die Gleichheit vor dem Gesetz festgeschrieben ist – unabhängig von der Religion.
Zudem befürchten viele, dass in diesem Jahr das „National Register of Citizens“ (NRC) im ganzen Land eingeführt wird. Dieses „Bürgerregister“ würde darüber entscheiden, wer Inder*in ist. Wem die nötigen Papiere fehlen, um das zu belegen, soll ausgewiesen werden. In Assam ist das bereits im September 2019 passiert: fast zwei Millionen Menschen wurden dort staatenlos erklärt.
Die Demonstrationen gegen die Gesetze sind die größten in Indien seit dem Amtsantritt des hindunationalistischen Premierministers Narendra Modi im Jahr 2014. Laut Medienberichten kam es bereits zu Tausenden Festnahmen und 27 Todesfällen. Doch wer geht dort eigentlich auf die Straße? Natalie Mayroth und Mona Thakkar (Mitarbeit) haben sich bei den Protestierenden umgehört.
Sahil, 25, Student und Anwalt aus Delhi

„An meiner Uni wird seit einem Monat protestiert. Zuvor ist die Polizei mit Tränengas gegen Studierende vorgegangen und hat unsere Bibliothek zerstört. Wir wurden vorübergehend in die Winterpause geschickt. Doch wir wollen weiter friedlich am Protest teilnehmen, da das neue Migrationsgesetz verfassungswidrig ist. Nach dem Motto #ReadForRevolution laden wir Menschen ein, mit uns zu lesen. Studierende im ganzen Land haben sich zusammengeschlossen und koordinieren den Protest. Aus Varanasi, aus Mumbai und Ahmedabad haben wir besonders viel Solidarität erfahren. Auch Freund*innen aus Goa oder Punjab sind gekommen, um mit uns zu protestieren. Alle Bereiche der Gesellschaft sind vertreten. Wenn es zu einem Bürgerregister kommt, wird das langfristig nicht nur Muslime betreffen, sondern auch Dalit (veraltet: Unantastbare), Indigene, Frauen und Trans*-Personen. Es ist zudem eine Chance für uns als Muslime die soziale und politische Marginalisierung, die wir erlebt haben, infrage zu stellen. Nicht nur in Delhi auch in meiner Heimatstadt im Bundesstaat Uttar Pradesh gibt es Proteste. Sie finden freitags oder sonntags statt. Aus der Stadt Muzaffarnagar im Nordwesten Indiens haben wir Entmutigendes gehört: dort eskalierte die Gewalt, Menschen starben. Dennoch bin ich optimistisch, weil wir immer mehr Unterstützung bekommen. Ich hoffe, dass das Oberste Gericht dieses zerstörerische Gesetz noch stoppen kann.“
Doel, 27, Texterin und Musikerin aus Mumbai

„Seit meinem Coming-out als Trans*-Frau bin ich mutiger geworden, mich öffentlich zu politischen Problemen zu äußern. Zuerst brachte mich das kürzlich von der Regierung verabschiedete Trans*-Gesetz zum Protestieren. Nun ist es das Migrationsgesetz. Ich sehe diese Ereignisse in einer Chronologie: Die Regierung verabschiedet ein Gesetz nach dem anderen, das marginalisierte Gruppen angreift. Sie macht das ohne jede Entschuldigung. Gegen Proteste setzt sie auch repressive Mittel ein. Damit nimmt sie den Menschen das Recht auf Meinungsfreiheit. Durch das Trans*-Gesetz müssen Trans*-Personen ihre Geschlechtsidentität nun von einem Behördenmitarbeiter bestätigen lassen. Und wenn das Bürgerregister für ganz Indien kommt, dann müssen alle ihre Identität als Staatsbürger*innen Indiens beweisen. In Assam fehlten unter den vielen Namen, die nicht auf der neuen Bürgerliste (NRC) des Bundesstaates waren, auch die von 2.000 Trans*-Personen. Das Positive ist, dass Indien nach langer Zeit eine spontane und massive Bewegung erlebt, die mich an den indischen Freiheitskampf erinnert. Ich sehe es als Test für die Zivilgesellschaft, wie fähig sie ist, Demokratie wahrzunehmen und dem Aufstieg von Faschismus zu widersprechen. Die größte Bedrohung der gegenwärtigen Regierung sind die Stimmen der Andersdenkenden, unsere Stimmen.“
Wafa, 45, Hausfrau aus Mumbai

„Es geht um mein Land, um die Zukunft meines Kindes und meine eigene. Während der britischen Herrschaft wurde unsere Redefreiheit unterdrückt. Nach so vielen Jahren der Unabhängigkeit können wir nicht einfach darüber schweigen, was gerade passiert. Ich bin in einem freien und säkularen Indien aufgewachsen, und möchte dasselbe für mein Kind. Heute gibt es Internetblockaden, Studierende werden angegriffen oder mit Gewalt konfrontiert, weil sie protestieren. Die staatliche Brutalität gegenüber Studierenden hat ein Feuer der Solidarität entfacht und Inder*innen unterschiedlicher Religionen zusammengebracht. Diese Proteste zeigen dem Staat, dass wir religionsübergreifend vereint sind. Manche fürchten, dass Indien geteilt ist, aber das stimmt nicht. Das Migrationsgesetz will zwar eine Spaltung entlang der Religionszugehörigkeit, aber bei all den Protesten, auf denen ich war, habe ich die „Einheit in Vielfalt“ erlebt, wie das Leitbild Indiens heißt und nicht nur Muslime angetroffen. Ich bin selbst Muslimin, habe aber trotzdem mehr Hindus als Freund*innen. Bei Freundschaften geht es nicht um Kaste oder Religion. Die Regierung nutzt die Proteste, um davon abzulenken, dass sich die wirtschaftliche Entwicklung extrem verlangsamt hat, die Arbeitslosigkeit und die Preise für Lebensmittel weiter steigen. Aber es gibt auch Teile der Bevölkerung, gerade die ökonomisch Schwachen, die nicht genügend informiert sind. Sie wissen nicht, dass es sie als erstes trifft.“
Kawalpreet, 23, Präsidentin der All India Student’s Organisation in Delhi

„Ursprünglich gingen die Proteste von Studierenden der Aligarh Muslim und der Jamia Universität aus. Doch nach brutalen Angriffen der Polizei auf beide Unis gewannen die Proteste an Akzeptanz. Bürger*innen begannen, sich zu beteiligen. Für mich ist es nicht das erste Mal, dass ich protestiere. Seit 2016 wächst der Druck an meiner Universität, die mit dem wachsenden Einfluss der hindunationalistischen Regierungspartei BJP zusammenhängt. Ich habe das Gefühl, dass diese Proteste erst der Anfang sind. Wir sehen das Migrationsgesetz als klaren Versuch unserer Regierung, Muslime in unserem Land auszugrenzen. Das erinnert an Nazideutschland, in dem Juden aufgrund ihrer ethnischen Identität zur Zielscheibe wurden. Die Suche nach Wegen, um Muslime kontinuierlich zu diskreditieren und gleichzeitig nationalistische Ideen unter der hinduistischen Mehrheitsbevölkerung zu verbreiten, ist ein Teil ihrer Strategie. Die Einführung des Migrationsgesetzes und eines Bürgerregisters folgt der Aufhebung der Teilautonomie Kaschmirs im August, in dem vor allem Muslime leben. Dazu kommt ein mildes Urteil über die Zerstörung einer historischen Moschee durch radikale Hindus vor fast 30 Jahren in Ayodhya. Schritt für Schritt zielt die Regierung von Premier Modi darauf ab, unseren säkularen Staat zu demontieren und in einen „Hindu-Staat“ zu verwandeln. Doch wir widersetzen uns trotz der gewaltsamen Unterdrückung, bei der Menschen gestorben sind. Wir als Studierende haben keine Angst mehr. Wir geben der Opposition den so dringend benötigten Mut und die nötige Energie.“