Schon als Kind musste ich mich mit damit beschäftigen, dass ich queerfeindlich beleidigt wurde. Ich hatte keine Ahnung, was diese Worte, die mich angeblich beschreiben sollten, bedeuteten und konnte auch nicht darüber reden. Niemand bereitete mich auf das jahrelange Mobbing in der Schule und darüber hinaus vor. Mit 16 Jahren outete mich eine Person aus meinem Freundeskreis vor der ganzen Jahrgangsstufe. Mit 19 Jahren schlug mich ein Unbekannter in einer Bar, weil er mich als queer las. Grenzüberschreitende Fragen und beleidigende Kommentare von Unbekannten, Freund*innen und Familie aufgrund meines Queerseins wurden und werden noch oft gestellt.
Ich könnte noch so viele von solchen biografischen Geschichten erzählen, aber ich habe keine Lust. Denn ich weiß, dass man mit dieser Erzählweise meistens von außen als Opfer dargestellt wird. Ich weiß auch, dass diese Erfahrungen oft erzählt werden, weil sie ständig passieren. In einer EU-weiten Studie aus dem vergangenen Jahr gaben 53 Prozent der befragten 15- bis 17-Jährigen an, schon einmal aufgrund ihrer sexuellen Identität diskriminiert worden zu sein.
Immer wieder laut im Kopf
Diese Erlebnisse, die fast zehn Jahre zurückliegen, beschäftigen mich noch fast täglich. Wie eine Stimme, die sich vor langer Zeit eingepflanzt hat und immer mal wieder laut in meinem Kopf sich Raum verschafft. Das Gefühl vom Anderssein und vom Anders gemacht werden vergeht nicht mit der Zeit. Es beeinflusst mich immer noch in vielen meiner Gedanken und Entscheidungen.
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So spüre ich heute noch vor allem Wut und Angst, wenn ich an gewisse Erlebnisse zurückdenke. Immer noch muss ich Strategien entwickeln, um mit diesen Emotionen klar zu kommen. Außerdem habe ich an mir selbst beobachtet, dass ich sehr gut darin geworden bin, mich an Umstände zu gewöhnen, die nicht gut für mich sind. Ich war seit meiner Kindheit daran gewöhnt, mich in etwas hineinzuzwängen. Weil mich andere Kinder verprügeln wollten, sollte ich Kampfsport machen. Meine Eltern dachten jahrelang, es würde mir Spaß machen. Aber das war überhaupt nicht der Fall.
Oft war es später dann auch so in Freundschaften, beim Dating, im Studium und im Alltag. Etwas zu machen, um nicht aufzufallen, ist auch ein Teil des Traumas. Teilweise kann es sogar sein, dass man sich in Klischeevorstellungen des Queerseins drängt, die gar nicht zu einem passen, aber von der Gesellschaft so projiziert werden. Diese Klischees möchte ich nicht benennen, da ich sie nicht reproduzieren will.
Zudem sind laut einer aktuellen Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung und der Universität Bielefeld queere Menschen fast dreimal häufiger von psychischen und körperlich stressbedingten Krankheiten betroffen. Die Gründe seien Anfeindungen und Ablehnung. Die Forschung deutet auf eine „massive Chancenungleichheit für ein gesundes Leben hin“.
Um die unterschiedlichen Diskriminierungsformen und das strukturelle Problem zu beschreiben, spricht man von „Queerfeindlichkeit“. Das kann ein passenderer Begriff sein als „Homophobie“. Homophobie ist, argumentieren manche, als Begriff eher auf die Menschen fokussiert, die einen als queere Person ausgrenzen, als auf die Betroffenen selbst.
Außerdem denken dabei die meisten vor allem an die Ausgrenzung queerer cis Männer. Dadurch wird den Anfeindungen gegenüber queeren cis Frauen, nicht binären Personen, inter Personen und trans Personen weniger Aufmerksamkeit geschenkt. Und es wird vergessen, dass sich Diskriminierung unterschiedlich äußert: Die EU-Studie zeigte auch, dass die Gewaltrate gegenüber trans Personen doppelt so hoch ist wie bei anderen queeren Menschen.
Queerfeindlichkeit findet in fast allen Bereichen statt und hat einen enormen Einfluss auf die mentale und körperliche Gesundheit. Aber meist heterosexuelle Mitmenschen versichern einem, dass alles nicht so schlimm sei und das Thema sowieso schon „stark präsent“. Dabei kennen sie sich oft nicht mit Begrifflichkeiten und der Lebensrealität queerer Menschen aus.
Etwa, sich in neuen Arbeitsbereichen immer wieder erklären zu müssen. Oft weiß man nicht einmal, ob man einen Job bekommen wird, wenn man sichtbar queer ist. Allein die Angst davor ist belastend. Denn nicht alle haben die Ressourcen und Möglichkeiten, in scheinbar queerfreundliche Großstädte zu ziehen oder in progressiven Bereichen zu arbeiten. Und selbst dort gibt es dafür keine Garantie.
Die Worte fehlen
Um über individuelle Erfahrungen zu reden, fehlt es queeren Menschen an der Sprache, oder Begrifflichkeiten passen nicht richtig. Im deutschsprachigen Diskurs gibt es eigentlich keine Bezeichnung für die Nachwirkungen dieser Art von Mobbing und Diskriminierung, die traumatisch sein können. Im Englischen spricht man von „queer traumata“, um die unterschiedlichen Langzeitfolgen, die man durch diese Art der wiederkehrenden Diskriminierung erlebt, besser zu benennen. Dabei ist der Begriff „queere Traumata“ passend, finde ich. Oft hatte ich nämlich das Gefühl, dass meine Erlebnisse von anderen queeren Personen nur als ein paar negative Erfahrungen abgetan wurden, die jeder queere Mensch mal mache. Als sei es „nur“ um eine harte Schulzeit gegangen. Als gehöre das eben dazu. Auch einige queere Freund*innen hingegen sagten, dass sie den Begriff Trauma zu hart und zu groß fänden für das, was sie erlebt haben. Es sei für sie eher eine negative Prägung, aber es habe bei ihnen keine traumatischen Nachwirkungen gehabt, sagten sie.
So unterschiedlich diese Erfahrungen und die Betrachtungen dazu sind, gemeinsam bei vielen bleibt der Schmerz. Zu oft noch gibt es Situationen, die einem vermitteln, dass Leute einen „anders“ wahrnehmen. Man hat das Gefühl, man selbst sei das Problem und erhält keinerlei Unterstützung.
Mich strengt es enorm an, mir aufgrund der strukturellen Diskriminierung, die ich erlebt habe, noch fast täglich Gedanken über meine sexuelle Orientierung zu machen. Diese Stimme im Kopf wird nicht weggehen, solange nicht mehr über die Langzeitfolgen von Queerfeindlichkeit gesprochen wird und nicht nur eine Scheinakzeptanz besteht. Durch Scheinakzeptanz können Leute Vorwürfe abwehren und rechtfertigen. Mehr Veränderung kann damit beginnen, dass mehr betroffene Personen ihre Perspektive teilen. Dass Raum für verschiedene Sichtweisen und Empfindungen geschaffen und auch zugehört wird. Dass eine Sprache dafür überhaupt existiert. Die Autorin Ronya Othmann schreibt dazu in dem Artikel “Die Sprache, die ich als Kind nicht hatte“ über queere Sichtbarkeit: „Eine Sprache zu finden, kann der Anfang eines politischen und gesellschaftlichen Wandels sein“.