Die rigiden Maßnahmen vieler Staaten zur Eindämmung von Covid-19 sind für Neonazis ein gefundenes Fressen. Neuseeland erklärte am 15. März, seine Grenzen zu schließen. In rechtsextremen Telegram-Gruppen mit mehreren tausend Mitgliedern kursierte danach ein Bild, das das Handeln der Regierung als Erfolg des Attentäters Brenton Tarrant feierte, der genau ein Jahr zuvor 51 Menschen in zwei Moscheen in Christchurch erschoss.
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Tarrant war ein Anhänger der Wahnidee des „großen Austauschs“. Eine Ideologie, die auch von der rechtsextremen „Identitären Bewegung“ vertreten wird und auf der These basiert , dass Migration die staatliche und kulturelle Ordnung im globalen Norden gefährden würde. Dahinter wird ein Plan der Regierung vermutet, durch den Bevölkerungsaustausch leichter Kontrolle über „das Volk“ ausüben zu können. Tarrant und ein Nachahmungstäter, der am 3. August 2019 aus einem rassistischen Motiv heraus 22 Menschen in einem Walmart in El Paso tötete, begründeten ihre Taten mit dem Klimaschutz. Der Christchurch-Attentäter nannte sich einen „ethnonationalistischen Ökofaschisten“.
Eine weitere Bezugsquelle für Tarrant war die Ideologie des Akzelerationismus. In ihrer rechtsextremen Ausprägung sieht diese die liberale Gesellschaft als gescheitert an und propagiert, den Zusammenbruch mittels dezentraler Terrorakte voranzutreiben. Damit soll der Weg für einen weißen Ethnostaat geebnet werden. Die Basis für diesen neonazistischen Akzelerationismus bildet „Siege“, eine Sammlung von Newslettern des US-Neonazis James Mason aus den 1980er-Jahren. Darin rief Mason unter anderem zur Bildung dezentraler Terrorzellen und zum „führerlosen Widerstand“ auf, um einen „Rassenkrieg“ zu provozieren, mit dem Ziel die angenommene Vorherrschaft der Weißen („white supremacy“) zu belegen.
Das Coronavirus hielt er für eine jüdische Verschwörung
Die rechtsterroristische Gruppe „Atomwaffen Division“ (AWD), die einen an James Mason orientierten Akzelerationismus vertritt, und aus deren Umfeld in den USA bereits fünf Morde verübt wurden, veröffentlichten Masons Schriften erneut, nachdem sie ihn 2017 aufgespürt hatte. Das Buch gilt als Pflichtlektüre gewaltbegeisterter Cybernazis, die unter Hashtags wie #readsiege dafür werben. Die AWD, die sich Mason zufolge diesen März aufgelöst hat, verfügt über internationale Ableger, in Europa unter anderem die „Feuerkrieg Division“, die auch ökofaschistische Inhalte verbreitet. In Deutschland war erst diesen Februar ein mutmaßlicher Aktivist der Gruppierung verhaftet worden.

Am 25. März wurde bekannt, dass ein 36-jähriger US-Neonazi am Tag zuvor nach einem Festnahmeversuch durch das FBI ums Leben gekommen war. Er soll einen Autobombenanschlag auf ein Krankenhaus im Bundesstaat Missouri geplant haben. Das Coronavirus hielt er für eine jüdische Verschwörung und einen Plan der Regierung, „um unser Volk zu zerstören“. Er war Mitglied in mehreren Neonazigruppen auf Telegram, unter anderem der sogenannten „Vorherrschaft Division“, die sich an der AWD orientiert und zum „Rassenkrieg“ aufruft.
Rechtsextreme versuchen derzeit, die Verunsicherung der Bevölkerung gezielt auszunutzen.
Auch Ökofaschist*innen sind auf Telegram vernetzt. Dabei gibt es Überschneidungen mit den terroraffinen Rechtsextremen. Zusammen bilden sie eine größere Online-Subkultur. Diese folgt einer spezifischen Ästhetik, die sich„Terrorwave“ nennt. Besonders beliebt sind martialische Bilder von waffentragenden Paramilitärs mit Totenkopfmasken. Rechtsextreme Terroristen wie Anders Breivik oder Brenton Tarrant werden als „Saints“ verehrt. Ebenfalls populär: der „Unabomber“ Theodore Kaczynski. Dieser vertrat die Ansicht, die moderne Gesellschaft habe den Menschen vom natürlichen Überlebenskampf entfremdet und müsse daher umgestürzt werden. Kaczysnki gilt in seiner Zivilisationsfeindlichkeit auch Ökofaschist*innen als Vorbild und Inspiration, in den Telegram-Kanälen kursieren Memes mit seinem Konterfei.

Auf die Covid-19-Pandemie wird in den rechtsextremen Kanälen ebenfalls Bezug genommen. Neben eher harmlosen Tipps zum Gartenbau und Alternativen zu Toilettenpapier finden sich auch Aufrufe, andere Menschen zu infizieren, etwa Polizist*innen oder Menschen jüdischen Glaubens. Ein Bild mit einem vierzeiligen Gedicht zum Coronavirus aus einer ökofaschistischen Telegram-Gruppe etwa ist mit dem antisemitischen Aufruf versehen, auf die Türklinken von Synagogen zu husten.
Rechtsextreme versuchen derzeit, die Verunsicherung der Bevölkerung gezielt auszunutzen. „Der aktuelle Ausnahmezustand birgt in den Augen von Rechtsextremen ein massives Handlungs- und Rekrutierungspotential“ sagt Miro Dittrich vom Monitoringprojekt de:hate der Amadeu-Antonio-Stiftung. „Es wird gehofft, dass nun die Wirtschaft sowie die Lieferketten zusammenbrechen und sich die Menschen daraufhin radikaleren Positionen zuwenden.“ Hamsterkäufe und die Tendenzen in der Bevölkerung, zu „preppen“, also sich mit Nahrung, Gebrauchsgegenständen und teilweise auch Waffen einzudecken, würden in extrem Rechten Online-Communities begrüßt, so Dittrich weiter.

„Rechtsextreme Akzelerationisten fordern jetzt, durch Anschläge auf Stromtrassen und Infrastruktur, die Situation weiter zu eskalieren. Auch, dass man nun ohne Sanktionen in der Öffentlichkeit Masken tragen kann, wird als ideale Bedingung für Terroranschläge gesehen. “ Zudem warnt Dittrich vor Radikalisierung von Jugendlichen im Netz: „Das Internet ist schon länger das Hauptrekrutierungsfeld für die extreme Rechte. Aufgrund von Ausgangssperren und Kontaktverboten verbringen die Menschen aktuell viel mehr Zeit online als sonst. Da kann es geschehen, dass sich junge Menschen neuen Autoritäten zuwenden, auch weil sie wahrnehmen, dass beispielsweise Eltern oder Lehrer mit der gegenwärtigen Situation überfordert sind.“