Als Yulia das erste mal ein Stück Haarseife benutzte, klebten und stanken ihre Haare und alles, was sie dachte war: „Ich muss sofort zum Frisör und das alles abrasieren.“ So oder so ähnlich fing das Experiment an. Yulias Wangen röten sich, wenn sie davon erzählt. Aber nicht vor Scham, sondern vor Begeisterung. Das alles ist drei Jahre her und ihre rotblonden Haare im strengen Pferdeschwanz sehen sauber und gepflegt aus. Das Experiment ist zum Lebensstil geworden. Was dabei herausgekommen ist: Ein Schraubglas voll Müll. Mehr hat Yulia im letzten Jahr nicht weggeschmissen. Zusammen mit ihrer dreiköpfigen Familie.
Dem Fachjournal „Nature“ zufolge produziert die Weltbevölkerung täglich 3,5 Millionen Tonnen Müll. Plastikmüll ist besonders problematisch: der kann nämlich nicht biologisch abgebaut werden. Er wird kleiner und kleiner aber er verrottet nicht vollständig. Nie. Und jährlich werden 300 Millionen Tonnen Plastik neu produziert – 26 Prozent davon für Verpackungen. Um die zwei Millionen Tonnen davon wird jährlich als Müll ins Meer gespült – das sind fast 900 große Schiffscontainer voll. Schon jetzt schwimmen dort gigantische Plastikinseln, Meerestiere halten das umher schwimmende Plastik für Nahrung und ersticken daran. Laut einer Studie der Ellen-MacArthur-Stiftung wird es im Jahr 2050 mehr Plastikmüll als Fische in den Weltmeeren geben.
In Ruanda sind Plastiktüten bereits seit 2008 komplett verboten, in Kenia kann man deswegen sogar bis zu vier Jahre ins Gefängnis wandern. Die wirklich großen Müllproduzenten sind allerdings die Industrienationen. In der EU sollen lediglich Strohhalme, Plastikbesteck und -geschirr ab 2021 verboten werden.
So wenig Müll wie möglich
Es gibt Menschen, denen das alles zu lange dauert. Zero Waste nennt sich die Bewegung, die versucht, so wenig Müll wie irgendwie möglich zu verursachen. Bekannt gemacht hat diesen Lebensstil die US-Amerikanerin Bea Jhonson mit ihrem Bestseller „Zero Waste Home“ , der seit 2013 in 25 Sprachen übersetzt wurde. Zu den bekanntesten Zero-Waste-Blogger*innen in Deutschland gehört Shia Su mit 87.000 Followern auf Instagram.
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Yulia (32) bekam Jhonsons Buch vor drei Jahren zu Weihnachten geschenkt, las es an einem Tag durch und gab es ihrem Mann Jurrien (28). Der war genauso begeistert wie sie. Seit dem 1. Januar 2016 leben die beiden abfallfrei. Vor einem Jahr wurde ihr Sohn Pawel geboren – der natürlich nur Stoffwindeln trägt. Eigentlich war es aber nicht die amerikanische Bestsellerautorin, die Yulia auf die Idee brachte, sondern ihre Kindheit in der Sowietunion. „Irgendwann habe ich in den Kühlschrank geguckt und gesehen: da ist mehr Plastik als Aufschnitt drin“, erinnert sie sich. „In meiner Heimat Russland kaufen wir keinen Aufschnitt in Plastikverpackungen. Da kaufen wir eine ganze Wurst und schneiden sie zuhause.“
Für alles eine unverpackte Alternative finden
Am Anfang war es hart, erzählt Yulia. Von der Babynahrung bis zur Haarspülung, für alles mussten sie eine unverpackte Alternative finden. Vieles machten sie Zuhause selber. „Es gab Momente, in denen ich dachte: ‚Das geht nicht, ich habe keine Kraft mehr‘. Aber dann hat Jurrien gesagt, ‚Komm, wir schaffen das‘. Genauso passiert es auch anders herum. Gemeinsam ist es leichter“.
Wenn Jurrien einkaufen geht, sieht das so aus: Er fährt von seiner Beton-Neubausiedlung neben dem Unisportgelände in die Innenstadt zu einem von zwei Unverpacktläden in Münster. In seinem blauen Rucksack mit den gelben Trägern, der farblich perfekt zu dem marineblauen Zweireiher und dem gelben Strickschal passt, klappern Weckgläser und Teedosen.
Im Laden angekommen, schaufelt Jurrien Gemüsebrühe und Kakao aus großen Schraubgläsern in jeweils eines seiner eigenen Behältnisse. An der Käsetheke lässt er sich ein Stück Butter von einer großen, in Wachspapier gewickelten Rolle abschneiden und in seine mitgebrachte Plastikbox füllen. Aus einem Metallkanister füllt er Sojasoße in eine kleine Glasflasche, Reis kommt in ein Stoffsäckchen.
Zähneputzen mit Backsoda
Die losen Zahnpasta-Pastillen zum Zerkauen lässt Jurrien liegen. Er putzt sich die Zähne mit Backsoda, Yulia nimmt Kokosöl: „Das hat eine antibakterielle Wirkung“. Auch wenn der aufgeräumte kleine Laden für fast alle Haushaltsgegenstände eine unverpackte Alternative bereit hält, versuchen die beiden vieles selbst zu machen.
Manchmal macht Jurrien trotzdem Ausnahmen. Zum Beispiel bei dem Putzmittel „Reine Citronensäure“, das er heute kauft. Das ist zwar ohne Chemikalien, aber in Papier verpackt. Für Medikamente nimmt er auch Plastikmüll in Kauf: „Was mir der Arzt verschreibt, das nehme ich auch, da ist es mir egal.“ Außerdem kauft Jurrien heute Klopapier: zwei unverpackte Rollen aus chinesischer Bambusfaser. Bambus wächst schnell nach – aber wird eben auch von der anderen Seite der Welt hergeschifft. Viel verbrauchen er Yulia davon eh nicht. Meist benutzen sie feuchte Waschlappen und schmeißen die zusammen mit Pawels Stoffwindeln in die Wäsche.
„Na, geht‘s dir wieder besser?“, fragt eine der Verkäuferinnen im Vorbeigehen. „Ja, wesentlich“, sagt Jurrien. „Hat sich alles wieder beruhigt im Magen.“ Die beiden kennen sich. Jurrien hat sogar seinen Geburtstag im Unverpacktladen gefeiert. Die Idee kam von Yulia. Sie wollte auch den Freund*innen mal zeigen, wie das mit Zero Waste funktioniert. „Die dachten am Anfang alle: ‚Jetzt sind sie völlig durchgedreht, das wird schon vorbeigehen‘“, lacht Yulia später in der Wohnung.
Abfallfrei leben, ist nicht die Lösung aller globalen Probleme
Lohnt sich der ganze Aufwand überhaupt? Ändert sich wirklich etwas an globaler Ausbeutung und Umweltzerstörung, nur weil einige ihren ihren individuellen Lebensstil ändern? Zero Waste macht es zumindest nicht schlechter, argumentiert Yulia. Sie hat den Plastikmüll an den Ostseestränden gesehen und sie möchte ihrem Sohn eine bessere Welt hinterlassen. Abfallfrei leben sieht sie nicht als die Lösung aller globalen Probleme – aber als einen Beitrag, den sie leisten kann.
37,39 Euro bezahlt Jurrien für seinen Einkauf. Allein die Haferflocken kosten 29 cent pro 100 Gramm – fast so viel wie bei Aldi das Kilo. Im Unverpacktladen ist alles Bio. Nur hier einzukaufen, geht ins Geld – und davon haben Jurrien und Yulia nicht viel. Er ist arbeitsloser Historiker, sie Geoinformatik-Studentin mit einem Minijob als Putzkraft. Deshalb kauft Jurrien Obst und Gemüse meist auf dem Wochenmarkt, kurz vor Schluss, wenn die Händler ihre Ware billig weggeben. Für Brot geht er auf dem Weg nach Hause bei Lidl vorbei. Dort steckt er drei große Weizenmischbrote in einen Jutebeutel. „Oooookey“, sagt die Kassiererin mit einem Blick auf den Beutel auf ihrem Fließband, doch sie kassiert Jurrien ganz normal ab. „Sie sind aber umweltbewusst!“, sagt sie zum Abschied mit einem anerkennenden Nicken.
Zuhause angekommen, trägt Jurrien seine Einkäufe in den zweiten Stock eines 70er-Jahre Betonbaus. „Familienwohnheim“ steht über dem Eingang. Die Tür zu der kleinen Drei-Zimmer-Wohnung schließt nur, wenn man Geduld hat und den richtigen Trick kennt und ist von innen provisorisch mit blauem Styropor gedämmt. Er und Yulia zahlen hier nur 300 Euro Miete: Das Wohnheim wird von einem katholischen Studierendenverein gefördert. Auch das macht das Einkaufen im teuren Unverpacktladen leichter. Tatsächlich erzählt Yulia drinnen am Wohnzimmertisch: „Seit wir Zero Waste machen, geben wir viel weniger Geld aus als vorher“. Jurrien schenkt Tee in geblühmte Tassen während der kleine Pawel an seiner Hand zieht. An der Wand hinter ihm hängt ein gerahmtes Hochzeitsfoto neben einem roten Marx-Plakat. Vom Billy-Regal guckt ein Holzjesus herunter. „Wir müssen jeden Einkauf planen und kaufen deshalb sehr bewusst ein“, erklärt Jurrien. „Dadurch geben wir kein unnötiges Geld für Gelegenheitskäufe aus. Wie Marx sagt: Bedürfnisse werden ja auch künstlich geschaffen.“
Einfach nur ein neuer Markt?
So viel Marx-Bezug wirft die Frage auf: Hat „Zero Waste“ das Zeug zur Massenbewegung? Yulia ist davon überzeugt. „Ich habe neulich an der Uni einen Vortrag gehalten und der Hörsaal war voll“, erzählt Yulia. „Ich habe eigentlich Angst, vor Menschen zu sprechen, aber vor Freude habe ich meine Angst vergessen“. Am Anfangen kannten Yulia und Jurrien noch niemand anderen in Münster, der abfallfrei lebte. Inzwischen gibt es einen regelmäßigen Stammtsich, vor wenigen Monaten haben sie gemeinsam mit zwölf anderen einen Verein gegründet. „Bei Infoständen rennen uns die Leute die Bude ein“, sagt Jurrien.
Mit wachsendem Interesse an der Bewegung wächst auch die Gefahr der Vereinnahmung durch große Konzerne: ist Zero Waste am Ende nichts anderes als ein neuer Markt, mit dem sich Geld verdienen lässt? Auch Yulia sieht diese Gefahr. Sie regt sich auf über „Zero Waste Starter Kits“ die einem jetzt schon überall angeboten werden. Man muss sich nichts extra kaufen, um abfallfrei zu leben, findet Yulia: „Wenn ich mir beim Bäcker ein belegtes Brötchen hole, wickele ich es in ein Stofftaschentuch“, sagt sie. „Meinen Coffee to go lasse ich mir in ein ausgewaschenes Bockwurstglas füllen.“
Alle Fotos von Finn Grohmann